Entwicklungsstörungen bei Kindern: Informationen & Spezialisten

24.11.2022
Dr. Gitta Jacob
Autor des Fachartikels

Entwicklungsstörungen bezeichnen Störungen bei der Reifung des Gehirns ab der (frühen) Kindheit. Diese Kinder entwickeln sich anders als durchschnittliche Kindern. Störungen der Entwicklung nehmen einen kontinuierlichen Verlauf. Sie verlaufen also nicht in wechselhaften Phasen, wie viele andere psychische Störungen. Die Entwicklung der jeweiligen Funktion ist praktisch von Anfang an gestört.

Hier finden Sie weiterführende Informationen sowie ausgewählte Spezialisten und Zentren für Entwicklungsstörungen bei Kindern.

ICD-Codes für diese Krankheit: F80, F81, F83, F84, F88, F89

Artikelübersicht

Arten von Entwicklungsstörungen

Bei Entwicklungsstörungen lassen sich verschiedene Arten von Störungen unterschieden. Hierzu gehören insbesondere:

  • Entwicklungsstörungen der Sprache und des Sprechens
  • Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, z.B. Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie), Rechenstörung (Dyskalkulie)
  • Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen
  • Tiefgreifende Entwicklungsstörungen, z.B. Autismus, Rett-Syndrom

Entwicklungsstörungen der Sprache und des Sprechens

Entwicklungsstörungen der Sprache und des Sprechens bezeichnen eine von Anfang an unzureichende Sprachentwicklung. Sie kann nicht auf

  • neurologische Störungen
  • Umweltfaktoren (wie z.B. Umzug in einen anderen Sprachraum)
  • sensorische Beeinträchtigungen (Hörschwäche) oder
  • zu geringe Intelligenz

zurückgeführt werden. Dabei ist zu beachten, dass Kinder sich nicht gleich entwickeln. Viele Kinder haben zumindest phasenweise ein eher langsames Entwicklungstempo. Dabei muss nicht unbedingt eine Störung vorliegen. Eine Störung besteht erst dann, wenn

  • die Entwicklung der betreffenden Funktion über einen längeren Zeitraum extrem langsam vonstattengeht, oder
  • gleichzeitig damit zusammenhängende Funktionen gestört sind.

So kann mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Sprachstörung vorliegen, wenn sich gleichzeitig etwa ausgeprägte Lese- oder Schreibprobleme zeigen.

Entwickeln sich alle Funktionen schlechter, könnte das allerdings auf eine generelle Intelligenzminderung hinweisen.

Was für Sprach- und Sprechstörungen gibt es?

Eine spezifische Störung der Sprachentwicklung ist die sog. Artikulationsstörung. Sie zeigt sich in der Verwendung von Lauten oder Lautverbindungen, die

  • vollständig fehlen,
  • fehlerhaft oder verdreht eingesetzt werden oder
  • durch andere Laute ersetzt werden.

Artikulationsstörungen sind die häufigsten Sprachentwicklungsstörungen. Sie treten bei ca. 7 Prozent der 5-jährigen Jungen und 2 Prozent der 5-jährigen Mädchen auf.

Bei der expressiven Sprachstörung kann das Kind sich nicht altersgemäß ausdrücken. Es kann beispielsweise keine altersangemessenen Sätze sprechen. Das Sprachverständnis gegenüber anderen ist jedoch normal.

Wenn das Sprachverständnis gestört ist, wird von einer rezeptiven Sprachstörung gesprochen.

Beim Stottern liegt eine Störung des Sprechablaufs vor. Der Sprechfluss ist gehemmt oder unterbrochen. Betroffene wiederholen oder dehnen häufig Laute oder Silben. Stottern tritt bei 5 Prozent der 5-jährigen Jungen und 2 Prozent der 5-jährigen Mädchen auf.

Auch das Poltern ist eine Störung der Sprechflüssigkeit. Es zeigt sich durch einen extrem unrhythmischen und unregelmäßigen Sprechfluss bei teilweise sehr schneller Sprechgeschwindigkeit.

Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

Zu diesen Entwicklungsstörungen zählen

  • die Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) sowie
  • die Rechenstörung (Dyskalkulie).

Beide Störungen kommen als Teilleistungsstörungen vor, d.h. die restlichen Fertigkeiten sind altersgemäß entwickelt.

Ca. 10 Prozent aller Kinder sind von Teilleistungsstörungen betroffen, Jungen deutlich mehr als Mädchen. Für die Lese-Rechtschreibstörung finden sich Erkrankungsraten zwischen 4 und 7 Prozent. Von Rechenstörungen sind bis zu 6 Prozent der Kinder betroffen.

Bei diesen Entwicklungsstörungen liegen die schulischen Beurteilungen der jeweils gestörten Funktionen im untersten Bereich. Häufig bestehen zusätzliche Probleme wie Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität.

Die Störung geht nicht ohne weiteres zurück, wenn das Kind mehr Unterstützung angeboten bekommt.

Betroffene Kinder erleben oft Versagen, Spott und schlechte Leistungen. Das führt zu emotionalen Problemen wie

  • Ängsten,
  • Störungen im Sozialverhalten,
  • psychosomatischen Symptomen (körperliche Beschwerden aufgrund psychischer Probleme) oder
  • Schulverweigerung.

Lese-Rechtschreibstörung

Die Legasthenie zeigt sich

  • im Auslassen, Verdrehen, Ersetzen oder Hinzufügen von Buchstaben oder Worten beim Schreiben und Lesen,
  • in einer niedrigen Lesegeschwindigkeit mit ausgeprägten Startschwierigkeiten und häufigem Zögern sowie
  • im Vertauschen von Buchstaben im Wort oder Worten im Satz.

Auch das Leseverständnis ist gestört. Betroffene Kinder können z.B. Gelesenes nicht in eigenen Worten wiedergeben oder eigene Schlüsse aus dem Gelesenen ziehen. Der Legasthenie geht häufig eine Sprachentwicklungsverzögerung voraus.

Im Erwachsenenalter können v.a. Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung bestehen bleiben. Die Lesefertigkeit normalisiert sich üblicherweise.

Legasthenie
Legasthenie ist eine häufige Lese-Rechtschreibschwäche © photophonie | AdobeStock

Statt einer Lese-Rechtschreibstörung ist in manchen Fällen eine reine Rechtschreibstörung zu beobachten. Das Lesevermögen und -verständnis bleibt unbeeinträchtigt.

Therapeutisch stehen neben der Informationsvermittlung an Eltern und Kind Übungsbehandlungen der gestörten Funktionen im Vordergrund. Daneben können in Abhängigkeit von der Rechtslage des jeweiligen Bundeslandes evtl. schulrechtliche Möglichkeiten genutzt werden. Dazu gehören etwa Legasthenie-Boni oder zusätzlicher Förderunterricht.

Fallbeispiel: Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie)

Der 9-jährige Joachim wird vom Kinderarzt in die kinder- und jugendpsychiatrische Ambulanz überwiesen. Er sei bis zum Schulbeginn ein heiterer und altersgemäß entwickelter Junge gewesen. Von Beginn der ersten Klasse habe er trotz Unterstützung durch Lehrerin und Mutter große Schwierigkeiten mit dem Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit gehabt. Dabei fällt auf, dass Joachim dieselben Wörter auf derselben Seite sehr unterschiedlich schreibt und sogar Schwierigkeiten hat, ein Wort vom anderen abzuschreiben. In allen übrigen Fächern zeigt er dagegen sehr gute Leistungen und arbeitet aktiv mit.

Die Lese- und Schreibprobleme ziehen sich schon über zweieinhalb Jahre hin. Joachim hat immer weniger Freude an der Schule. Er schläft häufig schlecht, morgens klagt er oft über Bauchschmerzen, dadurch kann er öfters nicht in die Schule gehen.

Rechenstörung (Dyskalkulie)

Bei der Rechenstörung beherrschen betroffene Kinder grundlegende Rechenfertigkeiten nur deutlich unterhalb der Alternorm. Dazu gehören etwa die vier Grundrechenarten.

Dabei können verschiedene Fehler auftreten. Betroffene

  • verstehen beispielsweise die Konzepte der Rechenarten nicht,
  • verstehen die mathematischen Ausdrücke und Zeichen nicht oder erkennen sie nicht wieder,
  • erinnern sich nicht an das Einmaleins, oder
  • verstehen den Zahlenaufbau und die richtige Zahlenreihenfolge nicht.

Möglicherweise ist bei den betroffenen Kindern die räumliche Vorstellungskraft unterdurchschnittlich gut ausgeprägt.

Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen

Bei dieser Störung sind die Kinder motorisch (in ihren Bewegungen) ungeschickt. Sie haben beispielsweise Schwierigkeiten,

  • sich selbst anzukleiden,
  • Schuhe zu binden,
  • mit Schere und Kleber zu arbeiten,
  • zu zeichnen oder zu malen.

Kompliziertere Bewegungsabläufe wie Fahrradfahren oder Schwimmen lernen sie sehr verzögert. Die betroffenen Kinder kommen durch Defizite in Schule, Sport und Freizeitbereich leicht in eine Außenseiterposition.

Bei der Diagnosestellung prüft der Arzt, ob den Entwicklungsstörungen auch eine Sehbehinderung zugrunde liegen kann.

Betroffen sind ca. 1,4 Prozent aller Schüler, Jungen doppelt so häufig wie Mädchen. Therapeutisch sind Übungstherapien und ein Training der Körperwahrnehmung angezeigt.

Tiefgreifende Entwicklungsstörungen

Der Autismus zählt wie das Rett-Syndrom zu den sogenannten tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Sie sind durch

  • schwere Beeinträchtigungen von sozialen Interaktionen und der Kommunikation sowie
  • stereotype und wenig variierende Interessen oder Bewegungen

charakterisiert.

Autismus

Beim frühkindlichen Autismus, der vor dem 3. Lebensjahr beginnt, sind die sozialen Interaktionen schwer gestört. Die Kinder können soziale Signale schlecht einschätzen und zeigen wenig Reaktion auf den jeweiligen sozialen Kontext. Es fehlt eine soziale oder emotionale Gegenseitigkeit, auch soziales Spiel tritt kaum auf.

Die Sprachentwicklung ist häufig ebenfalls gestört. Die vorhandene Sprache wird kaum sozial eingesetzt und wenig flexibel gebraucht.

Zusätzlich zeigen die Kinder starre, stark eingeschränkte und häufig sich wiederholende Verhaltensmuster (Stereotypien). Beispielsweise

  • berühren oder beriechen sie häufig Dinge oder
  • beschäftigen sich ritualhaft mit Fahrplänen oder Daten.

Neben diesen Merkmalen haben autistische Kinder häufig diverse Verhaltensauffälligkeiten wie

  • Ängste,
  • Selbstverletzungen (z.B. Kopf an die Wand schlagen oder sich in die Hand beißen),
  • Schlaf– und Essstörungen.

Eine leichtere Verlaufsform ist das Asperger-Syndrom. Auch hier zeigen die Kinder

  • eine beeinträchtigte Kommunikation,
  • stereotype Verhaltensweisen und
  • einen eigenwilligen Gebrauch der Sprache

Die intellektuelle Leistungsfähigkeit und Entwicklung der sprachlichen Fertigkeiten ist dagegen nicht beeinträchtigt.

Bis zu 0,1 Prozent aller Kinder sind Autisten, wobei Jungen zwei- bis dreimal so häufig betroffen sind wie Mädchen.

Rett-Syndrom

Das Rett-Syndrom betrifft nur Mädchen und beginnt zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat. Dann kommt es zu einem teilweisen oder vollständigen Verlust bereits erworbener motorischer und sprachlicher Fertigkeiten. Typisch sind stereotype windende Handbewegungen.

Im Verlauf kommt es u.a. auch zu körperlichen Fehlentwicklungen. Auch Symptome wie ein verlangsamtes Kopfwachstum und epileptische Anfälle können auftreten. Insgesamt ist der Verlauf schlecht und kann nicht entscheidend positiv beeinflusst werden.

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